Infos über AIDS - Wegschauen hilft nicht mehr

Unaids warnt vor rapider Ausbreitung des HI-Virus in Asien (2002)

VON MORITZ KLEINE-BROCKHOFF, RANGUN[ 1 ]


Während sie spricht, starrt die 45jährige Frau auf die Tischplatte. "Schreib meinen Namen bitte nicht, nenn mich Nan", sagt sie. Nan hat ein rundes Gesicht, kurze Haare und wenn sie nicht über Aids spricht, lächelt sie oft. Aber sie will über ihre Krankheit reden, was selten ist im ehemaligen Burma. "Vor drei Jahren habe ich erfahren, dass ich HIV-positiv bin. Aber ich habe das Virus schon viel länger, mein Mann hat mich angesteckt." Nan hatte gerade ihrem Mann geholfen, vom Heroin wegzukommen, als er starb. Das war Mitte der 90er Jahre.

"Damals wussten wir nichts von Aids. Der Arzt sagte, mein Mann sei an einer Lungenentzündung gestorben. Oder er hat sich nicht getraut, mit mir über Aids zu sprechen", so Nan. Auch heute redet man in Myanmar wie in ganz Asien wenig über Aids und dem Erreger der Krankheit, dem HI-Virus. Aber "Aids lässt sich nicht mehr verschweigen, weil das Problem mittlerweile unübersehbar ist", sagt Max Wey, der seit neun Jahren mit HIV-Patienten in der Hauptstadt Rangun arbeitet, "HIV hat sich rasend ausgebreitet."

Myanmar gehört neben Thailand und Kambodscha zu den Ländern mit den höchsten HIV-Infektionsraten in Asien. Schon vor einem Jahr glaubte die UN-Agentur Unitas, dass in Myanmar mehr als 530 000 Menschen infiziert seien, rund ein Prozent der Bevölkerung. Bei einer Untersuchung von schwangeren Frauen wurden sogar rund 3,5 Prozent positiv auf das HI-Virus getestet. In den Risikogruppen der Drogenabhängigen und Prostituierten könnte der Prozentsatz der Infizierten noch höher sein. "Niemand kennt hier das wahre Ausmaß von HIV und Aids", sagt ein Mitarbeiter der Weltgesundheitsorganisation WHO, "Schätzungen sind oft politisch motiviert." Das Regime in Rangun ignorierte Aids lange Zeit, dann wurden ein paar Tausend Fälle eingeräumt. Im Juni haben sich Unaids, das HIV/Aids-Programm der UN, und die Junta sich auf eine Zahl geeinigt: 178 000 HIV-Fälle sind nun offiziell.

Nach Angaben der Asiatischen Entwicklungsbank gibt Myanmars Regierung nur 1,4 Prozent des Bruttoinlandsproduktes für Gesundheit und Bildung aus. "Ein schlechter Witz", findet ein Diplomat in Rangun. Internationale Organisationen verteilen Kondome und Medikamente, versuchen, Aufklärungskampagnen zu starten. "Aber wir können nur hier und da ein wenig helfen, den Trend können wir nicht beeinflussen", sagt ein Mitarbeiter einer Nichtregierungsorganisation. In der vergangenen Woche warnten Mitglieder einer Asien-Pazifik-Arbeitsgruppe von Unaids: Der Trend in Asien sei der gleiche, den man zu Beginn der Epidemie in Afrika beobachtet habe. In Asien hat es 2001 eine Million neue Infektionen gegeben, 3000 jeden Tag.





Neu-Infektionen mit AIDS um 30 Prozent angestiegen

Wie sich Aids in Deutschland ausbreitet (2005) [ 2 ]

Das Thema Aids kehrt zurück: Die Zahl der Neuinfektionen mit der tödlichen Immunschwächekrankheit hat sich 2005 in Deutschland dramatisch erhöht. Waren es in den vergangenen Jahren jeweils rund 2000 Neuinfektionen, so werden es im laufenden Jahr nach Schätzung des Robert-Koch-Instituts in Berlin etwa 2600 sein - eine Zunahme von 30 Prozent. Vor dem Welt-Aids-Tag am 1. Dezember kündigte Gesundheitsministerin Ulla Schmidt nun verstärkte Aufklärungsmaßnahmen an.

Insgesamt leben in Deutschland etwa 49 000 Menschen mit einer HIV-Infektion oder mit der bereits ausgebrochenen Krankheit Aids, teilte die Deutsche Aids-Stiftung in Bonn mit. Steigende HIV-Infektionszahlen seien vor allem bei Männern festzustellen, die Sex mit Männern hätten, also homosexuellen oder bisexuellen Männern.

Etwa 20 Prozent aller Neuinfektionen in Deutschland würden aber bei Menschen erkannt, die aus besonders von HIV/Aids betroffenen Regionen der Welt stammen. Die Zahl der Hilfsanträge von Migranten an die Stiftung nehme zu. Allein in diesem Jahr hätten in Deutschland lebende aidskranke Menschen aus 87 Herkunftsländern um Unterstützung gebeten.

Im Vergleich zu anderen Ländern funktioniere die Prävention in Deutschland insgesamt immer noch recht gut, erklärte die Aids-Stiftung. So sei beispielsweise in Großbritannien von 2000 bis 2004 eine Verdoppelung der HIV-Neudiagnosen, von 3499 auf 7258 Menschen, zu verzeichnen.

"Dennoch müssen die Präventionsanstrengungen dringend verstärkt werden, zum einen, was die Aufklärung der breiten Öffentlichkeit betrifft, zum anderen, was die zielgruppenspezifischen Präventionsmaßnahmen angeht, die sich vor allem an homo- und bisexuelle Männer sowie an Migrantinnen und Migranten richten sollten", sagte Ulrich Heide vom Vorstand der Stiftung.

Gesundheitsministerin Schmidt betonte in Berlin, die wieder zunehmenden Infektionszahlen machten neue Informations- und Beratungsangebote nötig. Zwar kenne fast jeder die Übertragungswege. Verbesserte Behandlungsmöglichkeiten verleiteten jedoch eine wachsende Zahl von Menschen dazu, die Risiken der HIV-Übertragung zu unterschätzen. Dabei ist Aids nach wie vor nicht heilbar.




Weniger Drogen - starker Rückgang von HIV

AIDS in den USA (2005) [ 3 ]

San Francisco - Als einzige Stadt in den USA verzeichnet das kalifornische San Francisco einen Rückgang bei den HIV-Neuinfektionen. Halb so viele Ansteckungen wie im Jahr 2004 werde es in diesem Jahr geben, schätzt Jason Riggs von der Organisation "Stop Aids Project". "San Francisco und Kalifornien hatten einst die meisten Opfer dieser Epidemie", sagt Steven Tierney, Chef des Aids-Verhütungsprogramms der Stadt. Innerhalb der homosexuellen Bevölkerung war jahrelang jeder dritte mit dem HIV-Virus infiziert. Jetzt ist es jeder vierte. Wesentlicher Erfolgsfaktor ist Experten zufolge der verminderte Konsum der Droge Methamphetamin. Sie hat eine luststeigernde, aber auch enthemmende Wirkung, die vernunftbetonte Handlungen wie den Gebrauch von Kondomen bremst. Methamphetamin wird von vielen Homosexuellen genommen. Statistiken zeigen, daß Homosexuelle, die es nutzen, ein viermal höheres Risiko einer HIV-Infektion tragen als andere. Dank einer Info-Kampagne ist der Konsum jedoch rückläufig.




Aids-Tabu in Japan

HIV-Symposium: Japanische Forscher schauen für Therapie und Prävention nach Deutschland (2005)

Von Sonja Kastilan[ 4 ]

Nagoya - Freunde nennen ihn "Ciao". Seinen wirklichen Namen haben sie nie erfahren, denn Ciao ist schwul. So wissen auch seine Studenten nicht, daß der Jung-Professor in Workshops über Aids und HIV-Infektionen spricht. Oder abends in Nagoyas Amüsierviertel Informationsblätter und Kondome verteilt. Homosexualität und Aids sind Tabuthemen.

Dort, im Zentrum der Karaoke-Shows, Tanz-Bars und Massage-Salons, hat 3N Quartier bezogen, eine Initiative, die sich der Aids-Aufklärung verschrieben hat - unterstützt von der japanischen Aids-Stiftung und dem Gesundheitsministerium. Die Diskokugel an der Decke erinnert daran, daß der winzige Raum einst Körperkontakt zwischen Männern förderte, jetzt liegen im 3N Safer-Sex-Broschüren neben Party-Tips aus. Ciao sitzt mit seinem Laptop in einer ruhigen Ecke, bis jemand seinen Rat sucht, etwa 100 Männer finden jeden Monat den Weg in die Beratung.

Professor Seiichi Ichikawa ist froh über das ehrenamtliche Engagement von Ciao. Der Biologe berichtet begeistert von den Künstlern, die Verpackungen für Gratis-Kondome gestalten, oder den Präventionsaktionen, die er selbst initiiert. Trotzdem wirkt der grauhaarige Akademiker, der an der Nagoya City University zuständig ist für Prävention und Infektion, im 3N wie ein Fremdkörper zwischen den gestylten, jungen Männern, die eher verstehen können, daß Männer wider besseres Wissen nicht immer Safer Sex praktizieren. Ichikawa glaubt, das Aufklärung das riskante Verhalten verändern könne. Nur so lasse sich die Ausbreitung von HIV und anderen Geschlechtskrankheiten wie etwa Syphilis aufhalten.

"Wir können viel von Deutschland und den Erfahrungen, die dort schon gemacht wurden, lernen." Ein erstes gemeinsames Aids-Symposium, das am 9. und 10. November in Nagoya stattgefunden hat, soll eine enge Zusammenarbeit vorbereiten. Eine sechsköpfige Delegation des deutschen Kompetenznetzwerkes HIV/Aids berichtete auf dem Treffen über neueste Forschungsergebnisse. Darauf setzt auch Professor Takashi Okamoto, der an der Nagoya City University nach neuen Hemmstoffen für die Therapie forscht. "Das Virus entwickelt mehr Resistenzen gegen herkömmliche Medikamente. Kein Land kann das Problem allein lösen, wir müssen und wollen kooperieren. Was uns in Japan vor allem fehlt, ist ein Überbau wie das exzellente Kompetenznetzwerk." Besonders interessant sei die Datensammlung der Kohorte aus bislang bereits 8500 Patienten des deutschen Kompetenznetzwerk.

Okamoto und seine Kollegen wollen jetzt in Japan eine ähnliche Struktur schaffen und die Zusammenarbeit mit den deutschen Wissenschaftlern ausbauen. Ähnlich wie in Deutschland ist die HIV-Infektionsrate in Japan bei Männern mit männlichen Sexualpartnern besonders hoch. Etwa 10 070 Japaner tragen das Aids-Virus in ihrem Körper. Am Anfang der Epidemie sorgte ein Skandal mit verunreinigten Blutspenden für Aufmerksamkeit. Rund 2000 Menschen wurden infiziert. Das brachte einerseits hohe medizinische Standards, aber auch Mißverständnisse: Aids war eine Krankheit von Fremden, Schwulen und Hämophilie-Kranken, der Zusammenhang zur sexuellen Übertragung wurde verdrängt. Das rächt sich jetzt, da Japans Jugend sexuell aktiver wird.

Im Jahr 2004 waren es 780 bis etwa 1100 Neuinfektionen - 60 Prozent davon betrafen homosexuelle Männer, aber 25 Prozent der Fälle folgten nach heterosexuellen Kontakten.

Und ein Drittel der neuen Betroffenen ist jünger als 30 Jahre alt. Außerdem gehen Experten wie Shinichi Oka, der am International Medical Center in Tokio 2000 Aids-Patienten betreut, von einer hohen Dunkelziffer aus. "Viele wissen nichts von ihrer Infektion, lassen sich nicht testen", sagte Oka beim HIV-Symposium in Nagoya.





Von Erwachsenen im Stich gelassen

Afrika: 42 Prozent der Aids-Waisen, die allein für sich sorgen, denken an Selbstmord (2005) [ 5 ]

New York - Die Aids-Epidemie in Afrika macht Millionen Kinder zu Waisen. Und immer mehr bleiben auf sich gestellt, da ihre Verwandten sie nicht aufnehmen können. So gut es geht, sorgen sie selbst für sich und ihre kleineren Geschwister. Die Politikwissenschaftlerin Monica Ruiz-Casarez von der Cornell University in Ithaca (US-Staat New York) hat am Beispiel Namibias untersucht, wie schwer diese Verantwortung auf den jungen Haushaltsvorständen lastet. Sie befragte mehr als 200 Kinder, die allein für sich und ihre Geschwister aufkommen müssen. Ihr Durchschnittsalter war 17, viele waren aber jünger, manche erst neun Jahre alt. Nur die Hälfte der Kinder besuchte noch eine Schule.

Ruiz-Casarez wollte vor allem wissen, an wen sich die Kinder wenden konnten, wenn sie Hilfe brauchten. Im Durchschnitt fielen den Kindern nur vier Menschen ein, die ihnen helfen würden, in 60 Prozent der Fälle waren dies andere Waisenkinder. Obwohl sie angaben, zufrieden zu sein, dachten 42 Prozent der befragten Kinder häufig an Selbstmord. Vor diesem Interview hatten sie noch nie mit jemandem über ihre Situation gesprochen. Insgesamt gibt es heute in Afrika mehr als zwölf Millionen Aids-Waisen. Bis 2010 rechnet Unicef mit mehr als 18 Millionen Kindern in Afrika, die durch Aids beide Eltern verloren haben.





Neuinfektionen in Berlin seit 2000 fast verdoppelt

AIDS in Berlin (2005) [ 6 ]

In Berlin leben rund 7100 Menschen mit einer HIV-Infektion, gibt das Berliner Robert-Koch-Institut (RKI) bekannt. Davon sind etwa 6200 Männer und 925 Frauen. Mit einer voll ausgebrochenen Aids-Krankheit müssen zur Zeit 1400 Berliner leben. Von den Männern haben sich fast 90 Prozent über Sex mit anderen Männern angesteckt. Fast tausend Berliner haben sich das Virus über infizierte Spritzen beim Drogenkonsum geholt. Im Jahr 2005 zählte das RKI in Berlin 375 Neuansteckungen, 100 Neuerkrankungen und 100 Todesfälle durch Aids. Gegenüber dem Jahr 2000 mit 198 Neuinfektionen haben sich die Neuinfektionen fast verdoppelt. Hauptursache ist laut RKI eine rückläufige Bereitschaft, sich bei sexuellen Kontakten mit neuen und noch unbekannten Partnern durch Kondome zu schützen. Seit dem Beginn der Epidemie Anfang der 1980er Jahre sind 4100 Berliner an Aids gestorben. Insgesamt leben inzwischen rund 49 000 HIV-Infizierte in Deutschland.





Aids breitet sich in Rußland aus

Kongreß in St. Petersburg - "HIV bedroht die nationale Sicherheit" (2005) [ 7 ]

St. Petersburg - Die Zahl der Infektionen mit dem Aids-Virus nimmt in Rußland in erschreckendem Maße zu. Das war eine der Botschaften einer Internationalen Aids-Konferenz in St. Petersburg, die in der vergangenen Woche stattfand und an der rund 300 Experten teilnahmen.

"HIV bedroht die nationale Sicherheit Rußlands", warnte Konferenzpräsident Professor Andrei Kozlow von der Universität St. Petersburg. Schließlich gebe es keine andere Region in der Welt, in der sich Aids so rasant ausbreitet wie in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion.

Derzeit verdopple sich hier die Zahl der HIV-Infizierten von Jahr zu Jahr, sagt Kozlow. "Bis 2008 dürfte die Zahl der HIV-Positiven in Rußland die Zahl von fünf Millionen erreicht haben", sagt Kozlow voraus und schätzt, daß bis 2010 die Zahl der Todesfälle durch Aids die Millionenschwelle erreicht haben wird: "Ich fürchte, daß der russische Präsident die Dimension des Problems noch gar nicht erkannt hat."

Noch vor zehn Jahren hatte es offiziell kein Aids in Rußland gegeben. Kozlow betont, daß diese Sicht politische Gründe hatte und die Aids-Forscher zwischen 1987 und 1995 insgesamt schon 1062 HIV-Infizierte in Rußland registriert hatten. Erst ab 1996 explodierten die Infektionszahlen, und 1998 erreichte die Epidemie dann Moskau und St. Petersburg.

In St. Petersburg verbreitet sich das Aids-Virus insbesondere im Milieu der rund 70 000 Drogenabhängigen.

Aber auch die große Zahl von geschätzten 50 000 Prostituierten und das sehr liberale Sexualverhalten der Studenten scheinen das Problem zu verschärfen.

Eine Befragung unter Studenten ergab, daß 17 Prozent innerhalb eines Jahres mehr als zehn Sexualpartner hatten. 59 Prozent brachten es auf mehr als einen Partner. Kondome wurden so gut wie nie genutzt.

Eine Studie unter Drogenabhängigen in Petersburg zeigte eine erschreckende Zunahme der Zahl von HIV-Infizierten. Waren 1999 erst vier Prozent HIV-positiv, so stieg dieser Anteil auf 34 Prozent im Jahr 2003.




Übertragene Verantwortung

Das Virus ist immer noch tödlich – daran soll der Welt-Aids-Tag heute erinnern. Welche Erfolge gibt es im Kampf gegen die Krankheit? (2005)

Von I. Bach, B. Kast und H. Wewetzer [ 8 ]

Wie viele Menschen leben weltweit mit dem Aids-Virus?

Nach Schätzungen des Robert-Koch-Institus: 40,3 Millionen Menschen. Die meisten der Betroffenen, rund 26 Millionen, befinden sich in Afrika südlich der Sahara. Auch in Süd- und Südostasien sind mit 7,4 Millionen sehr viele Menschen infiziert. In Südamerika beträgt die Zahl der HIV-positiven Patienten 1,8 Millionen. In Deutschland leben rund 49 000 Menschen mit dem Virus oder sind an Aids erkrankt.

Weshalb stecken sich in Deutschland wieder mehr Menschen an?

Seit 2001 steigt die Zahl der Neuinfektionen, sie liegt derzeit bei rund 2600 pro Jahr. Zuvor stagnierte die Zahl jahrelang bei rund 2000. Nach dem Aids-Schock der 80er Jahre hat die Krankheit in Deutschland viel von ihrem Schrecken verloren. Und gerade bei schwulen Männern – sie stellen mit rund 31 000 Infizierten immer noch die weitaus größte Betroffenengruppe – lässt das Schutzverhalten nach. Nach zwei Jahrzehnten ständiger Ermahnungen und Todeswarnungen nimmt die Bereitschaft ab, Kondome zu benutzen. Ein Grund dafür sind die Erfolge bei der Arznei-Therapie. Die Mehrheit der Patienten kann mit den antiretroviralen Medikamenten ein relativ unbeschwertes Leben führen. Sie müssen sich allerdings an strenge Vorgaben bei der Pilleneinnahme halten. Anfangs braucht man nur zwei Medikamente, aber im Laufe der Krankheit werden es immer mehr. Wenn man die Mittel nur unregelmäßig nimmt, drohen Virenstämme, die gegen die Medikamente resistent sind. 2005 werden, wie die Epidemiologen des Robert-Koch-Instituts (RKI) in Berlin schätzen, 750 HIV-Patienten der insgesamt 49 000 Infizierten sterben.

Wie sehr ist Aids in Deutschland immer noch ein Tabuthema?

Ein Tabu im Sinne, dass man darüber nicht spricht, ist Aids sicherlich nicht mehr. Die intensive Aufklärung hat viel dafür getan, dass Ängste vor dem "Makel" zurückgegangen sind. Außerdem war die Krankheit lange Jahre in der Öffentlichkeit unsichtbar. In den 80er Jahren mussten die Patienten noch damit leben, dass sie durch die Flecken des Kaposi-Sarkoms, einer speziellen Form des Hautkrebses, für alle offensichtlich an Aids erkrankt waren. Die Therapieerfolge führten dazu, dass das Kaposi verschwand – und damit der Zwang, "darüber zu reden".

Doch nun wird die Krankheit erneut sichtbar: Jetzt sind es die Nebenwirkungen des jahrelangen Medikamentengebrauchs: so die Umverteilung des Körperfetts, wie eingefallene Gesichter und dicke Bäuche. Gleichzeitig lassen sich wieder mehr Menschen anonym auf das HI-Virus testen und nicht mehr bei ihrem Hausarzt. So rechnen die Gesundheitsämter in Berlin in diesem Jahr mit 6200 anonymen Tests, 2003 waren das noch 5600. Und das, obwohl seit 2004 eine Gebühr für den Test gezahlt werden muss.

Gibt es neue Erkenntnisse in der Forschung, die darauf hoffen lassen, dass die Krankheit eines Tages geheilt werden kann?

Eine Heilung ist nicht in Sicht. Bis heute ist es nicht geglückt, eine Infektion mit dem Aids-Erreger rückgängig zu machen. Medikamente können die Vermehrung des Virus lediglich verlangsamen. Aber wer infiziert ist, behält das Virus auch. Selbst Jahre intensiver Therapie "überlebt" das Virus, indem es in Zellen des Immunsystems "überwintert".

Wie wahrscheinlich ist es, dass es einmal einen Impfstoff geben wird?

Viele Forschungsgruppen arbeiten daran – aber es ist extrem schwer. Man versucht, die Abwehrstoffe ("Antikörper") des Immunsystems zu aktivieren, indem man Teile des Aids-Virus oder Virusgene injiziert, zum Teil bei Affen, zum Teil auch schon an Menschen. Die Gene werden vom Körper aufgenommen und führen zur Bildung von Bausteinen des Virus, gegen die das Immunsystem dann seine Antikörper bildet. Normalerweise führen solche Antikörper zur Vernichtung des Virus. Das Tückische am Aids- Virus ist, dass es seine Strukturen ständig ändert – die hochspezifischen Antikörper erkennen es dann nicht mehr. Außerdem versteckt das Virus die Angriffspunkte für die Antikörper hinter "Tarnmolekülen". Bei Affen sind einige Impfversuche schon gelungen, beim Menschen aber funktioniert die Methode noch nicht.

Gibt es auf der Welt Beispiele, wo die Zahl der Neuansteckungen gesunken ist?

Ein Beispiel ist Botsuana. Kaum ein Land ist so betroffen: Fast 40 Prozent der Bevölkerung sind infiziert. Nun hat man dort aber ein Anti-Aids-Programm gestartet, das erste Erfolge zeigt. Das Programm reicht von Aufklärungskampagnen bis hin zur Versorgung mit antiretroviralen Medikamenten.




Das Comeback

Aids gilt in Deutschland als Krankheit der 80er Jahre – aber die Seuche kehrt zurück (2005)

Von Bas Kast [ 9 ]

Er sagt: Das ist auch für mich nicht einfach. Irgendwo zwischen Hoffnung und Horror die Mitte zu finden. Er seufzt. Er versucht es mit einem 50 Zentimeter langen Poster, klappt es auf. Zum Vorschein kommen 32 Tabletten, weiße, gelbe, groß und bunt wie Bonbons, beschriftet mit kryptischen Kürzeln, B25, GX CC2, GS FC2. Er sagt: Sie können wählen – nehme ich ein Kondom oder riskier ich es und lass mich auf diese Geschichte ein?

Aids in Deutschland im Jahre 2005. Kaikawus Arastéh, 50, Direktor der Klinik für Infektiologie am Auguste-Viktoria-Krankenhaus in Berlin, er blickt auf sein Pillen-Poster und sagt: Die Therapie fängt mit zwei bis acht Tabletten an. Täglich. Schon bald werden es mehr, und am Ende "reichen 20 Pillen nicht". Der Arzt wird zu Ihrem besten Freund, ob Sie’s wollen oder nicht. Selbstverständlich ziehen die Medikamente Nebenwirkungen nach sich, sie reichen von Diabetes bis hin zu dieser eigentümlichen, entstellenden Fettverschiebung: Fettpolster aus Gesicht, Arm und Beinen verlagern sich in den Nacken und die Bauchregion, plötzlich hat man einen Stiernacken.

Ja, sagt Arastéh, mit dem Aids-Virus HIV lässt es sich leben. Hier zumindest. Global gesehen geht es uns sogar gut. Den 49 000 Infizierten in Deutschland stehen weltweit 40,3 Millionen gegenüber. Wer sich bei uns ansteckt, kann auf über 30 zugelassene Medikamente zurückgreifen und gehört damit zu einer kleinen, privilegierten Minderheit.

Aber auch in Deutschland sind nicht wenige Infizierte zusätzlich belastet: Sie haben eine weitere Infektion aufgeschnappt, ihre Viren sind gegenüber den Arzneimitteln resistent geworden oder sie leiden unter anderen Komplikationen. Dann landen sie in Arastéhs Klinik.

Wie Markus. Er hockt im Schneidersitz auf einem Bett in einem kargen Stationszimmer, im Hintergrund läuft der Fernseher, RTL. Markus war 15, als er vom Bodensee nach Berlin kam und so richtig die Puppen krachen ließ, jeden Scheiß mitmachte, "ick kam ja vom Lande, wo die Uhren langsamer ticken und hatte den Verstand eines Elfjährigen". Die nächsten sieben Jahre hing Markus am Heroin.

Heute ist Markus 35, mager, sein Gesicht ist gelb angelaufen. HIV ist sein kleineres Problem, sein großes heißt Hepatitis. Deshalb ist er hier. Er gehört zu jenen Patienten, die nicht mit acht und nicht mit 20 Tabletten klarkommen. Er gehört zu den komplizierten Fällen.

Die so selten nicht sind: Ein Drittel der HIV-positiven Patienten in Westeuropa hat sich zusätzlich mit Hepatitis C infiziert, besonders hoch ist der Anteil der Drogenabhängigen. Die Hepatitis-Viren vermehren sich in der Leber, es entsteht eine chronische Entzündung, die das Organ nach und nach zerstört. Seit einem Jahr wartet Markus auf eine neue Leber, doch noch ist sie nicht in Sicht.

Markus spricht langsam, benommen von dem Koma, aus dem er erst seit kurzem wieder erwacht ist. Er spricht über die heutigen Jugendlichen. Er sagt: So ungefähr jeder zweite oder jeder dritte Jugendliche hat keine Ahnung von Aids oder nimmt die Sache nicht ernst. Aids? "Das ist ne Krankheit, sagen die mir, die gab es mal, ein Problem von Schwulen, Drogensüchtigen. Das ist mir egal, da gibt es doch Tabletten! Die wissen nicht, dass das eine Krankheit ist, die zum Tode führt", sagt er und verbessert sich gleich: die zum Tode führen kann. Am Ende des Jahres, schätzen Epidemiologen des Robert-Koch-Instituts in Berlin, werden in Deutschland wieder um die 750 Aids-Patienten gestorben sein.

Aids in Deutschland: 1996 war das Jahr der Wende. Seit damals gibt es eine "Kombinationstherapie", bestehend aus drei bis vier Klassen von Medikamenten. Sie attackieren das Aids-Virus an verschiedenen Stellen und hemmen so dessen Vermehrung. Die Zahl der Todesfälle ging rapide zurück, es kam zu immer weniger Neuinfektionen. 2001 erreichten diese einen Tiefstand: nur noch geschätzte 1425 Menschen infizierten sich.

Doch der Rückwärtstrend hat sich umgekehrt. Aids steht vor einem Comeback. Die Zahl der HIV-Neuinfizierten ist in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen: 2002 steckten sich 1635 Menschen an, 2003 waren es 1827, ein Jahr später 2058, und 2005 werden sich etwa 2600 Menschen neu infiziert haben.

Besonders hoch ist der Anstieg der Neuinfektionen bei den 20- bis 25-Jährigen – bei jenen, die den Aids-Schock der 80er Jahre mit den abgemagerten Körpern in den Talkshows nicht erlebt haben. Vor allem schwule Männer sind von HIV betroffen, sie machen bei uns 70 Prozent der Patienten aus. Manche von ihnen ziehen sogar einen Kick aus dem Spiel mit dem Tod, treffen sich auf "Bareback-Partys", wo es ohne Gummi zur Sache geht (Bareback heißt so viel wie: "ohne Sattel reiten"). "Dieser Anteil ist aber relativ klein", sagt Stefan Cremer, 44, der Psychologe auf Arastéhs Station. "Bei den meisten ist es eher so, dass sie Bescheid wissen, nur dann kommt halt die Party, dann kommen die Partydrogen und der Alkohol, und die Hemmungen fallen, und da lässt man das Kondom auch mal weg."

1997 gaben 73 Prozent der unter 45- jährigen Singles an, immer, häufig oder zumindest gelegentlich Kondome zu verwenden, laut Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung in Köln. Letztes Jahr ist die Zahl auf 69 Prozent gesunken. Das mag damit zusammenhängen, wie die Leute die Lage wahrnehmen: Vor zehn Jahren hielten 60 Prozent der Deutschen Aids für eine der gefährlichsten Krankheiten – heute sieht das nur noch ein Drittel so. Aids hat seinen Schrecken verloren.

Eine gefährliche Fehleinschätzung, wie Arastéh meint. Die HIV-Neuinfektionen in Deutschland werden aller Voraussicht nach weiter steigen. Ein Grund dafür sind auch die explodierenden Ansteckungsraten in Osteuropa. In der Ukraine ist schätzungsweise eine halbe Million Menschen HIV-positiv, "doch kaum jemand kümmert sich darum", sagt der Arzt. "Während der orangenen Revolution letztes Jahr waren die Medien voll von Bildern aus der Ukraine, die halbe Million HIV-Infizierter wurde aber nicht einmal erwähnt!" Prostituierte, die nach Deutschland oder an die Grenze Deutschlands kommen, geben das Virus an ihre Freier weiter, die Männer stecken wiederum ihre Partnerinnen an.

Und während die Zahlen weiter steigen, sinkt der Etat für die Aids-Aufklärung ("Gib Aids keine Chance!") der Bundeszentrale. Betrug er früher mal 25 Millionen, so stagniert er nun schon seit Jahren bei 9,2 Millionen Euro. Die Spots sind zurückgegangen, ebenso wie die Berichterstattung in den Medien. "Die EU tut so gut wie gar nichts, die Bundesregierung diskutiert und diskutiert, aber es passiert wenig, und ich fürchte, das wird unter der großen Koalition nicht anders sein", schimpft Kaikawus Arastéh. "Kampagnen wie die Mach’s-Mit-Aktion genügen nicht, damit erreichen Sie die heutigen Jugendlichen doch nicht mehr."

Jede Generation, sagt der Arzt, muss vielmehr aufs Neue auf ihre Sexualpraktiken angesprochen werden.



Quellenangaben

[ 1 ] Quelle: Berliner Tagesspiegel 10.7.2002, S. 5

[ 2 ] Quelle: Berliner Morgenpost 29.11.2005, S. 9

[ 3 ] Quelle: Berliner Morgenpost 30.11.2005, S. 9

[ 4 ] Quelle: Berliner Morgenpost 01.12.2005, S. 10

[ 5 ] Quelle: Berliner Morgenpost 01.12.2005, S. 10

[ 6 ] Quelle: Berliner Morgenpost 01.12.2005, S. 10

[ 7 ] Quelle: Berliner Morgenpost 30.05.2005

[ 8 ] Quelle: Berlin, Der Tagesspiegel, 1.12.2005, Fragen des Tages

[ 9 ] Quelle: Berlin, Der Tagesspiegel, 1.12.2005, S. 31, Forschen



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Ins Netz gesetzt am 15.02.2002; letzte Änderung: am 21.05.2013
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