Erziehung zur Gemeinschaftsfähigkeit


Beziehungs- und Gemeinschaftsfähigkeit sind ein Barometer für seelische Gesundheit. Je kontaktgestörter, beziehungsärmer und gehemmter ein Mensch ist, desto eher flieht er in störende Verhaltensmuster. Grundsätzlich gilt: Die Ich-Du-Beziehung funktioniert nur, wenn zwei Menschen Beziehungen pflegen wollen.


Was beinhaltet Gemeinschaftsfähigkeit?

Kinder, Jugendliche und Erwachsene können mit anderen Menschen Kontakt aufnehmen,

  • sie können mit anderen Menschen Dialoge führen,
  • sie nehmen an den Geschehnissen in der Welt teil,
  • sie zeigen keine überhöhten Minderwertigkeitsgefühle,
  • sie besitzen Einfühlungsvermögen für die Probleme der anderen,
  • sie fühlen sich mit anderen solidarisch,
  • sie können auf Gewalt, Macht und autoritäres Verhalten verzichten,
  • sie zeigen und praktizieren Hilfsbereitschaft,
  • sie zeigen und praktizieren Nächstenliebe.


Wir halten fest:

  • Ohne Gemeinschaftsfähigkeit keine Liebesfähigkeit,
  • ohne Gemeinschaftsfähigkeit keine Konfliktfähigkeit,
  • ohne Gemeinschaftsfähigkeit keine Beziehungsfähigkeit.

Seit dem Sündenfall ist die Gemeinschaftsfähigkeit gestört

Die Vertreibung aus dem Paradies hat dem Menschen eine Welt mit Dornen und Disteln beschert. Sünde, psychische Störungen und Krankheiten aller Art gehören zum Alltag, auch des Christen. Mit dem Sündenfall haben alle Beziehungen des Menschen einen Knacks bekommen.

  • Seine Beziehung zu Gott ist gestört,
  • seine Beziehungen zu Mitmenschen sind gestört,
  • seine Beziehung zu sich selbst ist gestört.
  • Christus ist in die Welt gekommen, um diese Störungen der Gemeinschaftsfähigkeit wieder zu heilen.

Wie kommt es zu Störungen der Gemeinschaftsfähigkeit?

Beziehungen in der Ursprungsfamilie haben eine enorme Bedeutung. Schwächen und Stärken kristallisieren sich im Zusammenleben mit Eltern, Geschwistern und Großeltern heraus. Lebens-, Arbeits-, Liebes- und Konfliktfähigkeit werden in der Familie trainiert. Die Wahl des Partners hängt nicht unwesentlich von den Erfahrungen ab, die ein Kind mit Eltern und Geschwistern gemacht hat.

  • Fühlt ein Kind sich vernachlässigt?
  • Fühlt ein Kind sich abgelehnt?
  • Fühlt ein Kind sich benachteiligt?
  • Fühlt ein Kind sich nicht geliebt?
  • Entscheidend ist nicht, ob diese Einschätzung objektiv stimmt. Entscheidend ist, daß das Kind so fühlt.

Störungen des Selbstwertes führen in der Regel zu Minderwertigkeitsgefühlen. Verwöhnung ist der sicherste Weg in eine psychische Fehlhaltung. Verwöhnung und Verzärtelung provozieren ständig neue Wünsche und Forderungen. Verwöhnung entmutigt und macht suchtanfällig. Der Verwöhnte weicht der Realität aus, flieht in Tagträume und irreale Zukunftsphantasien.

Eine Überkompensation der Minderwertigkeitsgefühle ist das Geltungsstreben. Es signalisiert den Willen nach oben ohne Willen zur Leistung. Im Hintergrund steht Entmutigung. Geltungsstreben tritt oft getarnt auf und wird durch Selbstanklagen, Verkleinerungstendenzen und überstrapazierte Schuldgefühle verschleiert. Auf Umwegen will der Mensch zur Größe. Sein Motto lautet "Eine Laus oder Napoleon".

Die Selbstwertstörung erfaßt alle Bereiche. Der Mensch findet sich nicht liebenswert, nicht attraktiv, hält sich nicht für intelligent. Er gibt sich gehemmt, schüchtern, beschäftigt sich viel zuviel mit sich, weicht Kontakten aus, ist mißtrauisch oder hält sich für etwas Besonderes.

Zusammengefaßt: Eine verminderte Gemeinschaftsfähigkeit führt

  • zu großer Angst,
  • zu verstärkter Aggression,
  • zum Pessimismus,
  • zu Eitelkeit und Hochmut,
  • zu Neid und Eifersucht.

Was sollten Eltern und Erzieher bedenken?

Gemeinschaftsfähigkeit liegt uns nicht im Blut. Wir müssen sie erwerben, erlernen, trainieren. Ein gutes Zusammenspiel von Eltern, Erziehern und Kindern ist dafür die Basis.

Denkanstoß Nr. 1: Wenden Sie die goldene Regel des Zusammenlebens an!

Wo Menschen zusammenleben, gibt es Reibungen, Konflikte und damit Ärger. Im Lukas-Evangelium gibt uns Jesus eindeutig zu verstehen, wie das Zusammenleben gelingen kann. "Behandelt die Menschen so, wie ihr selbst von ihnen behandelt werden wollt - das ist alles, was das Gesetz und die Propheten fordern" (Matth. 7,12).

Ein schlichter und idealer Satz. Ein revolutionärer Gedanke, wenn er von uns umgesetzt wird.

  • Jeder weiß, was ihm die andern tun sollen.
  • Jeder weiß, was er von anderen erwartet.
  • Jeder weiß, daß Geben und Nehmen, Schenken und Beschenktwerden, Gelten und Geltenlassen, Beglücken und Beglücktwerden zusammengehören. Eltern und Erzieher, die das vorleben, werden Gemeinschaftsfähigkeit ihrer Kinder erreichen.
  • Sie erwarten Rücksichtnahme, also beginnen Sie, anderen gegenüber Rücksicht zu nehmen.
  • Sie erwarten Respekt, also leben Sie Respekt.
  • Sie erwarten, daß man Sie ernst nimmt, also nehmen Sie Ihr Kind ernst.
  • Sie wollen nicht belogen werden, also verzichten Sie auf Lügen.
  • Sie wollen nicht hintergangen werden, also hintergehen Sie andere Menschen nicht.


Denkanstoß Nr. 2: Akzeptieren Sie das Kind - wie es ist!

Nicht wie es sein sollte. Unser Herr hat uns vorgemacht, was Liebe ist. Er liebt uns bedingungslos. Er sagt ja zu uns - mit allen Schwächen und Fehlern. Annahme ist das A und O in zwischenmenschlichen Beziehungen. Eingeschränkte Annahme beinhaltet eine eingeschränkte Beziehungsfähigkeit. Das Kind bekommt das Gefühl, daß es nicht dem Anspruch genügt, nicht wertvoll, nicht liebenswert ist. Und diese Mängel beeinträchtigen sofort die Gemeinschaftsfähigkeit.


Denkanstoß Nr. 3: Verantwortung zumuten!

Schon kleinste Kinder wollen mithelfen. Wir muten ihnen die Verantwortung zu. Es ist ein großer Fehler, wenn wir erst später - mit 10 bis 12 Jahren - Verantwortung von ihnen fordern. Der Vater geht arbeiten, die Mutter macht den Haushalt und kocht (wenn wir einmal von dieser althergebrachten Konstellation ausgehen), dann können auch kleine Kinder den Tisch decken, abräumen usw. Verantwortung wird nicht gefordert, sie reizt augenblicklich zum Widerspruch, sie wird zugemutet. Sie ist eine Selbstverständlichkeit. Wir können nicht diskutieren, ob Vater arbeiten geht, also können wir auch nicht diskutieren, ob mitgearbeitet wird. Über das Wie, die Modalitäten, über Zeit und Kraft wird selbstverständlich nachgedacht.


Denkanstoß Nr. 4: Überprüfen Sie Ihre eigenen destruktiven Verhaltensmuster!

Wenn Eltern zur Gemeinschaftsfähigkeit erziehen wollen, müssen sie ihre eigenen Umgangsmuster unter die Lupe nehmen: Was stört unsere Beziehungsfähigkeit? Welche Praktiken sind gemeinschaftsfeindlich? Welche Denkgewohnheiten untergraben die Liebesfähigkeit? Neigen wir zum Kritisieren? Sind wir perfektionistisch? Haben wir zu hohe Erwartungen? Neigen wir zu Pessimismus? Sind wir fehlerorientiert? Sind wir bereit, diese Muster mit unseren Kindern zu besprechen? Können wir miteinander darum beten, daß wir sie verringern?


Denkanstoß Nr. 5: Vermeiden Sie Angst, Drohungen und Erpressungen!

Diese Einstellungs- und Verhaltensmuster blockieren die Vertrauensbasis zwischen Eltern und Kindern. Vertrauen ist aber die Grundlage jeder Beziehungsfähigkeit. Mißtrauen ist ein Beziehungskiller. Angst blockiert, macht unkritisch. Sie verstärkt die Hemmung, macht einsam und fördert den Rückzug. Auch Drohungen und Erpressungen sind schlechte Ratgeber. Das Kind wird entmutigt. Es bekommt Angst vor dem Leben und vor der Beziehung.


Denkanstoß Nr. 6: Sie ermutigen, wenn Sie selbst ermutigt sind!

Ermutigen kann nur ein ermutigter Erzieher. Ihn kennzeichnet Selbstbewußtsein und Selbstvertrauen. Er glaubt an seine Stärken und an die Möglichkeiten seiner Kinder. Was will der Erzieher erreichen? Will er sein Kind kleinhalten, will er es unselbständig und abhängig machen? Oder legt er Wert darauf, ein selbständiges, mündiges und abgenabeltes Kind zu erziehen? Das selbständige Kind denkt und handelt freier von Angst, lebt weniger Hemmungen und geht auf Menschen zu.

Ermutigung ist wichtiger als Lob. Loben kann ich nur Leistungen. Ermutigen kann ich auch ein Kind, das Fehler gemacht und eine Arbeit danebengeschrieben hat. Ermutigen heißt: Ich glaube an das Kind. Es wird kontakt- und gemeinschaftsfähiger, wenn es auch an sich glaubt.

Der ermutigte Mensch strahlt Geborgenheit und Zuversicht aus. Er glaubt an sich und seine Möglichkeiten. Und weil er Selbstvertrauen hat, praktiziert er Gemeinschaftsfähigkeit.


Hinweise für den Selbsterforschungsfragebogen

Ein Selbsterforschungsbogen stimmt nicht stimmt etwas stimmt ganz
Furcht      
Krankhafte Ängste      
Spannungszustände      
Herrschsucht      
Überempfindlichkeit      
Hemmungen      
Vertrauen auf eigenen Kraft      
Sorgen      
Verbitterung      
Haß      
Eifersucht      
Ungeduld      
Verantwortungslosigkeit      
Stolz      
Kritiksucht      
Faulheit      
Aggressivität      
Zorn      
Schuld      
Starrsinn      
Depression      
Arbeitssucht      
Unsicherheit      
Ichbezogenheit      
Perfektionismus      

1. Bitte füllen Sie den Bogen ohne langes Nachdenken aus!

Der erste Faktor (Furcht) beinhaltet: Wie weit hemmt Furcht Ihre Beziehungen? Spielen Befürchtungen in Ihrem Leben eine Rolle?

2. Fünfundzwanzig Störfaktoren können die Gemeinschaftsfähigkeit beeinflussen. Können Sie nachvollziehen, daß diese Einstellungsmuster die Beziehungsfähigkeit blockieren?

3. Nehmen Sie zwei Faktoren ins Gebet und in Arbeit, die in Ihren Augen am stärksten ausgeprägt sind und Ihre Beziehungsfähigkeit hemmen.

  • Wo kommen diese Schwierigkeiten her?
  • Welche Störungen rufen sie im Zusammenleben konkret hervor?
  • Welche Motive oder Beweggründe sind es, daß Sie diese Einstellungsmuster praktizieren?

4. Wie lautet konkret Ihr Gebet, um diese Störfaktoren in Arbeit zu nehmen?

5. Wenn Sie die Motive Ihres Verhaltens nicht durchschauen, sind Sie bereit, mit einem Fach-Seelsorger die Störungen aufzuarbeiten?

© 2002 Reinhold Ruthe. Alle Rechte vorbehalten.



Der Autor, Reinhold Ruthe, ist Psychotherapeut für Kinder und Jugendliche sowie Eheberater, Autor und Dozent.



Dieser Artikel ist mit freundlicher Genehmigung der Zeitschrift "Weisses Kreuz" Zeitschrift für Lebensfragen entnommen. Sie können gerne diese kostenlose Zeitschrift abonnieren.



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